„Trauma, das ist doch etwas für Therapeuten, nicht für Seelsorger!“ Solche oder ähnliche Reaktionen erlebe ich nicht selten, wenn ich von meiner Arbeit als Seelsorger und Berater mit traumatisierten Menschen erzähle. Der Begriff und das Phänomen „Trauma“ werden in weiten Bereichen noch immer stark mit Psychotherapie und Traumatherapie assoziiert, auch in der Seelsorge. Gleichzeitig hat sich in den letzten Jahren das Bewusstsein für Traumatisierungsprozesse, Traumaerfahrungen und deren Folgen für die Betroffenen deutlich geschärft. Im Kontext der Seelsorge sind es vor allem die Flucht- und Migrationserfahrungen vieler Menschen und die wichtige Diskussion über sexualisierten und geistlichen Missbrauch in kirchlichen und diakonischen Kontexten, die dem Phänomen „Trauma“ eine stärkere Aufmerksamkeit haben zuwachsen lassen.
Allerdings paart sich dies in seelsorgerlichen Tätigkeiten nicht selten mit einem Gefühl von professioneller Nichtbetroffenheit („Trauma – kommt bei mir nicht vor“), professioneller Nichtzuständigkeit („Dafür bin ich nicht da, darum sollen sich andere Professionen kümmern“), fehlender oder nicht hinreichender fachlicher Kompetenz („Dafür fühle ich mich nicht ausgebildet und kompetent“) oder Überforderung („Das ist mir zuviel, das schaffe ich nicht“). Solche und ähnliche Einwände sind nicht spezifisch für die Seelsorge, sie teilt sie vielmehr mit vielen anderen Professionen und Handlungsfeldern im psychosozialen Feld. Allerdings scheint mir die Zurückhaltung gegenüber den Themen Trauma und Traumaarbeit in der Seelsorge und Gemeindearbeit noch deutlich ausgeprägter zu sein.
Die Prävalenz von Trauma in der Gesellschaft
Nach Maercker erleben statistisch bis zu 60 % der Menschen in Deutschland mindestens ein traumatisches Ereignis in ihrem Leben und viele müssen nicht nur ein, sondern mehrere traumatische Erfahrungen durchleiden. Die Zahlen variieren je nach Bevölkerungsgruppe und Lebensphase, und nicht jede traumatische Erfahrung führt zu einer diagnostizierten Traumafolgestörung. Wir müssen aber davon ausgehen, dass wir in all unseren seelsorgerlichen Bezügen und Handlungsfeldern immer auch Menschen begegnen, die Traumatisierungen erlebt haben oder erleben, selbst wenn wir dies nicht wissen, und zwar häufiger, als wir vielleicht vermuten.
Ein psychisches Trauma ist, so die klassische Definition von Fischer/Riedesser, „ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ Dies können einmalige, kurze, lang andauernde oder auch sich wiederholende Ereignisse sein, meist in der Konfrontation mit bzw. Erfahrung von Tod, physischer oder psychischer Gewalt, Entwürdigung und Verletzung der bio-psycho-sozial-spirituellen Identität eines Menschen. In solchen Situationen sind die individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten der betroffenen Personen häufig überfordert und damit ausgeschaltet. So kann die extreme Stressbelastung nicht abgebaut werden und kann sich das Erlebnis als traumatische Erfahrung in Körper und Seele des Menschen dauerhaft festsetzen („verkörperter Schecken“) und zu einer dauerhaften Beeinträchtigung in all seinen Lebensvollzügen und – bezügen führen.
Im Anschluss an Andreas Stahl lässt sich formulieren: Traumaerfahrungen sind Überwältigungserfahrungen, „Verwundungen“ der Seele, die die normale menschliche Lebensanpassung überwältigen, sehr oft die alltägliche Lebensführung bestimmen oder in den unterschiedlichsten Situationen unerwartet wieder aufbrechen, dabei die Lebensbewältigungskompetenz immer wieder neu herausfordern (oder überfordern) und so das Leben der Betroffenen als ein primäres „Verwundet-Sein“ prägen.
Die Rolle der Seelsorge in der Traumaarbeit
In der Seelsorge begegnen wir Menschen oft in Situationen, die sie existentiell herausfordern. Dies können Situationen sein, die aktuell eine potenziell traumatisierende Qualität haben können, wie z.B. ein Unfall, ein plötzlicher Verlust, eine lebensbedrohliche Diagnose etc. Ebenso kann es sein, dass eine aktuelle Krise zu einer Reaktivierung früherer lebensgeschichtlicher traumatischer Verwundungserfahrungen führt und diese das aktuelle Empfinden und Verhalten bestimmen. Dies wahrzunehmen, die Reaktions- und Verhaltensweisen der Betroffenen zu verstehen und in eine für die Betroffenen hilfreiche und heilsame Gestaltung der seelsorgerlichen Begleitung zu integrieren, ist eine zentrale Aufgabe der Seelsorge. Indem sie dies tut, wird sie auch zu einem wichtigen Teil der Traumaarbeit.
Das Feld der Traumaarbeit hat sich in den letzten Jahren über die Traumatherapie hinaus deutlich erweitert und ausdifferenziert. „Traumaarbeit“ bezeichnet nach Wilma Weiss ganz allgemein „die Unterstützung der Betroffenen durch Helfende“. Diese findet nicht nur in therapeutischen, sondern in allen psychosozialen Handlungsfeldern statt, wozu auch die Seelsorge gezählt werden kann. Dabei kann Seelsorge sehr gut an die bereits gut etablierten Konzepte von Traumapädagogik und Traumaberatung anschließen. Seit Ende der 1990er Jahre hat sich mit der Entwicklung dieser Fachdisziplinen eine Ausweitung der Traumaarbeit auf nichttherapeutische Bereiche und Professionen vollzogen.
Sozusagen als dritte Phase der Entwicklung etabliert sich gegenwärtig unter dem Begriff „Traumasensibilität“ über diese speziellen Fachdisziplinen hinaus eine weitere Ausweitung der professionellen Haltung und Arbeitsweise in weitere berufliche und gesellschaftliche Bereiche. Man könnte von einer „traumasensiblen Bewegung“ in allen psychosozialen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern sprechen. Sie ist bestrebt, die jeweiligen professionellen Formen der Hilfe, Begleitung und Unterstützung so mit elementaren psychotraumatologischen Einsichten und Grundprinzipien traumabezogener Arbeit zu verknüpfen, dass Menschen mit Traumahintergrund eine für sie hilfreiche Unterstützung erfahren können. Für den Bereich Schule fasst Carl Hehmsoth dies folgendermaßen zusammen: „Traumasensibilität bezeichnet eine Weiterentwicklung der Traumapädagogik und richtet sich an Betreuer, Lehrer und Bezugspersonen, die niedrigschwellig mit traumatisierten Kindern arbeiten und keine Weiterbildung zum Traumapädagogen haben oder wollen. Sie bezeichnet vor allem eine Haltung, eine Sensibilisierung von Menschen, um Kindern helfen zu können und feinfühlig auf die Bedürfnisse einzugehen.“ Auch für den Bereich Seelsorge gibt es mittlerweile eine ganze Reihe entsprechender Ansätze zu einer traumasensiblen Seelsorge.
Traumasensibilität als Grundhaltung
Traumasensibilität lässt sich demnach als eine Erweiterung der Traumaarbeit über die Traumatherapie und Fachdisziplin der Traumapädagogik/-beratung hinaus auf alle psychosozialen Handlungsfelder inklusive Kirche, Gemeinde und Seelsorge verstehen und beschreibt eine Grunddimension und einen Grundmodus jeglicher psychosozialer Unterstützungsarbeit.
Trotz der bereits genannten wichtigen Ansätze für eine traumasensible Seelsorge scheint mir die grundsätzliche Bedeutung und Relevanz von Traumasensibilität in der Seelsorge wie in der Gemeindearbeit und Theologie insgesamt erst noch im Werden zu sein. Daher möchte ich abschließend die Bedeutung und Relevanz von Traumasensibilität für die Seelsorge in vier Thesen zusammenfassen:
1. Traumasensible Seelsorge ist keine Traumatisierten-Seelsorge: Sie richtet sich nicht nur speziell an traumatisierte Menschen, sondern stellt vielmehr eine Grunddimension jeglicher Seelsorge dar. Gewiss begegnen uns in bestimmten seelsorgerlichen Handlungsfeldern häufiger Menschen mit Traumatisierungshintergrund als in anderen, und ist es für die seelsorgerliche Begleitung sehr hilfreich und sinnvoll, wenn nicht gar notwendig, wenn Seelsorgende in diesen Handlungsfeldern auch über eine spezifische Traumafachkompetenz verfügen. Aber in der Seelsorge müssen wir darüber hinaus immer damit rechnen, dass unter den seelsorgesuchenden Menschen oder in den Gruppen, mit denen wir arbeiten, auch Menschen mit traumatischen Erfahrungen sein können, selbst wenn dies nicht bekannt oder diagnostiziert ist und der konkrete Seelsorgeanlass (zunächst) nicht daraufhin deutet. Dies erfordert eine generelle traumasensible Ausrichtung der seelsorgerlichen Begleitung und eine dementsprechende Gestaltung der konkreten Arbeit.
2. Traumasensibilität als Grundmodus der Seelsorge: Traumasensibilität in der Seelsorge beschreibt daher auch keine seelsorgerliche Spezialmethode, sondern einen Grundmodus, eine bestimmte Art und Weise jeglicher Seelsorgearbeit. Im Blick auf die Schule fasst Helga Kohler-Spiegel dies folgendermaßen zusammen: „Traumasensibles Arbeiten in der Schule bedeutet, auch ohne Kenntnis über evtl. Traumatisierungen bei Schülerinnen und Schülern traumabewusst, traumalindernd und Retraumatisierung vermeidend zu arbeiten und die Weiterentwicklung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Traumaerfahrungen zu unterstützen.“ Dies lässt sich meines Erachtens auch auf seelsorgerliche Prozesse übertragen. Seelsorgerliche Praxisgestaltung muss immer darauf ausgerichtet sein, mögliche Retraumatisierungen zu vermeiden, den Seelsorgeprozess stabilisierend und gegebenenfalls traumalindernd zu gestalten und so die Alltags- und Lebensbewältigung und einen eventuellen Traumabearbeitungsprozess heilsam zu unterstützen. Davon profitieren nicht nur traumatisierte Menschen, sondern alle Menschen, mit denen wir in der Seelsorge arbeiten.
3. Traumasensible Grundhaltung und Traumakompetenz: Dafür ist vor allem eine traumasensible Grundhaltung und eine grundlegende Traumakompetenz entscheidend, und zwar nicht als seelsorgerliche Spezialform, sondern als zentraler und integraler Bestandteil seelsorgerlicher Kompetenz überhaupt. Traumasensible Seelsorge weiß um die Dynamiken, die Traumaerfahrungen bei den betroffenen Menschen auslösen und die Formen, in denen sie das Leben und Verhalten bestimmen können. Sie kann aktuelle Situationen mit der „Traumabrille“ betrachten und traumabewusst verstehen. Sie gestaltet den eigenen Prozess der Begleitung traumasensibel durch eine traumasensible Beziehungsgestaltung und Gesprächsführung, durch die Integration geeigneter traumaadaptierter Methoden (z.B. Reorientierung, Stabilisierung, etc.) und die traumainformierte Reflektion und Gestaltung der eigenen spezifischen seelsorgerlichen, spirituellen und theologischen Grundinhalte.
4. Die Rolle der traumasensiblen Seelsorge: Dabei ist sich eine traumasensible Seelsorge ihrer Rolle sehr bewusst. Sie ist keine Traumatherapie und sie ersetzt auch keine Traumatherapie. Sie kann aber eine wichtige Unterstützung für Menschen mit Traumaerfahrungen sein, neben und ergänzend zu einer möglichen therapeutischen Bearbeitung, vor allem aber beim Leben heute und morgen mit der „Wunde der Vergangenheit“, beim Sich-selbst-und-die-Welt-und-Gott-besser-Verstehen-Lernen, beim Wiederfinden und Weiterentwickeln eigener „Selbstbemächtigung“ (Wilma Weiss) und stärkender Ressourcen für die eigene Alltags- und Lebensgestaltung. Dabei weiß sie um die heilsame Kraft, die in spirituellen und religiösen Erfahrungen, in biblischen Bildern und Texten, in religiösen Traditionen und Ritualen liegen können und vermag sie im Prozess der seelsorgerlichen Begleitung traumasensibel anzubieten, einzubringen und von den Betroffenen als Ressource nutzbar zu machen.
So kann traumasensible Seelsorge ein wichtiger Teil der Traumaarbeit sein, denn „traumasensible Unterstützung ist nicht weniger als Traumatherapie, sie ist anders.“ (Udo Baer).
Aktuelle Weiterbildung
Die Stiftung Wings of Hope führt seit einigen Jahren regelmäßig Weiterbildungen zum Thema „Trauma und Seelsorge“ durch, in denen Menschen in seelsorgerlichen Tätigkeiten sich mit den Grundprinzipien einer traumasensiblen Seelsorge vertraut machen. Informationen zum aktuell laufenden Kurs finden Sie hier.
Thorsten Garbitz, ev. Pfarrer, Traumapädagoge und -berater (DeGPT), Traumaseelsorger und Mitglied des Fachkräftenetzwerks von Wings of Hope